sie haben gelbe augen

Der Wald war stockdunkel.

Keine Sterne am Himmel. Bibbernd schlang ich meine Jacke fester um mich und blickte auf meine Armbanduhr. Das blasse, hellgrüne Licht warf einen gespenstischen Schein auf meine Haut: 4.30 Uhr. Sie war schon seit über einer Stunde fort. Ich betete inständig, dass ihr nichts passiert war.
Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie alleine loszog. Aber durch mein lahmes Bein war ich mehr Last als Hilfe. Ich versuchte mich zu beruhigen und murmelte ein Gedicht, das mir meine Mutter oft aufgesagt hatte. Mein Atem kam stoßweise und ich konnte jede Silbe durch den Dunst erkennen, der aus meinem trockenen Mund drang.
Meine Mutter. Obwohl sie schon seit Monaten tot war, ergriff ein herber Schmerz von meinem Herzen Besitz. Sie fehlte mir. Alle fehlten mir. Die gemeinsamen Abende, das Zusammensein….
Knack.
Blitzschnell sprang ich auf, mein aufschreiendes Bein ignorierend. Ich tastete nach dem Messer an meinem Gürtel und beobachtete stumm das Rascheln im Gebüsch vor mir. Etwas bewegte sich auf mich zu. Langsam ging ich ein paar Schritte rückwärts und drehte mich hinter eine alte Eiche. Ich hielt den Atem an.
Dann hörte ich Schritte auf mich zukommen. Jede Sehne in meinem Körper war zum Zerreißen gespannt. Die Schritte hielten inne. Es sah sich nach mir um, roch mich. Es kam auf mein Versteck zu. Ich hob das Messer, wartete, bis die dunkle Gestalt an mir vorüber gegangen war – und sprang auf sie los.
„Au! Bist du wahnsinnig?“
„Anna!“, erkannte ich schließlich meine Verbündete. Ich ließ das Messer sinken und rückte von ihr ab. Sie rieb sich die Schulter.
„Fast hättest du mich erstochen“, klagte sie.
„Tut mir leid. Ich wusste nicht, ob du es bist. Du warst so lange weg“, murmelte ich entschuldigend.
„Ja, tut mir auch leid. Ich habe sie eine Weile beobachten können, die Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen.“
„Und?“
Anna zog sich die Kapuze gegen die Kälte tiefer ins Gesicht. „Ich kam nicht nah genug ran, um etwas zu hören oder genau zu erkennen, sonst hätten sie mich bemerkt, aber ihr Lager konnte ich aus der Ferne überwachen. Wie immer stehen sie nur reglos da.“ Sie seufzte.
„Wie weit sind sie weg?“, wollte ich wissen.
„Etwa einen Kilometer östlich von uns“, sagte Anna.
Ich wusste, was das bedeutete. Wir mussten an ihnen vorbei, wenn wir zur Stadt wollten. Es gab nur noch wenige sichere Orte und diese Stadt war einer davon, so sagte der aufgefangene Funkspruch in Endlosschleife. Seit Monaten waren wir unterwegs, um sie zu erreichen. Und nun war der Weg versperrt.
Ich wollte aufgeben. Dieser lange, schmerzvolle Kampf kam mir immer sinnloser vor. Meine Mutter hatten sie erwischt, als sie uns etwas zu Essen besorgen wollte. Den Unterschied hatte ich nicht gleich festgestellt, erst als sie mich von hinten angriff und auf die Straße zerrte. Mein Bruder hörte meine Schreie und eilte mir zu Hilfe. Nachdem er sie erschlagen hatte, weinte er eine Woche lang. Ihren Leichnam vergruben wir im Garten, die Augen, die sich einfach nicht schließen wollten, leblos in den Himmel starrend. Diese gelben Augen. Milchig, krank, wie der Mond, der uns schmutzig und verbeult vom sicheren Himmel aus verhöhnte.
Meinen Bruder erwischten sie ein halbes Jahr danach, und ich kam knapp mit dem Leben davon. Ich würde nie vergessen, wie diese dreckigen gelben Augen mir hinterher hetzten, um mich zu kriegen. Zu besetzen, zu besitzen. Zu einem von ihnen zu machen. Mich schauderte.
„Lass uns vorsichtig um sie herum gehen. Wir müssen es versuchen.“ Ich rieb meine Hände gegen die Kälte aneinander.
Anna nickte. Ich hatte sie auf der Flucht kennen gelernt, wenige Wochen nachdem ich meinem Bruder entkommen war. Wir waren beide allein, beide mit Augen in sattem Grün. Es stand außer Frage, dass wir uns verbündeten.
„Wir müssen uns weiter links halten, dann sollten wir ungesehen an ihnen vorbeikommen“, sagte Anna. Ich folgte ihr. Wir gingen einige hundert Meter weit, bis wir in der Dichte des Waldes ein fernes Flackern zwischen den Feuern erkannten. Die Angst kroch mir in den Bauch.
„Weiter“, wisperte Anna. Mein Bein schmerzte. Seit dem Kampf mit meinem Bruder und dem Sturz vom Dach war es nicht mehr dasselbe. Ich biss mir auf die Lippe.
„Immer noch geradeaus?“, fragte ich leise. Für meinen Geschmack waren wir viel zu nah.
„Ja. Selbst wenn wir erwischt werden, haben wir eine Chance, es sind nur drei von ihnen.“
Ich nickte. Dann stockte ich. „Genau drei?“, hakte ich zögernd nach und blieb stehen.
„Ja, drei. Komm weiter“, zischte Anna ungeduldig und zog an meinem Ärmel.
Ich riss mich los. „Ich dachte, du hast nicht gesehen, wie viele es sind. Dass du nicht näher ran konntest“, sagte ich tonlos. Ich griff nach meinem Messer.
Anna stand mit dem Rücken zu mir. Langsam drehte sie sich um.
„Lisa, jetzt komm weiter. Vertraust du mir nicht?“ Ihre Worte kamen als weiße Wölkchen unter ihrer Kapuze hervor. Sie kam einen Schritt näher und lächelte mich an.
In einer geübt fließenden Bewegung drückte ich das Licht an meiner Armbanduhr an, hielt es ihr ins Gesicht und richtete gleichzeitig mit der anderen Hand mein Messer auf ihren blanken Hals.
Gelb. Milchig gelbe Pupillen blickten mich seelenlos an.
Ich reagierte blitzschnell, stieß meine ehemalige Verbündete weg von mir und rannte los. Ich kam nicht weit. Sie war so viel schneller. Ich spürte etwas Hartes gegen meinen Schädel prallen, mein Kopf bebte und die Dunkelheit verschluckte mich.

Stimmen. Leise Gespräche um mich herum. Das Prasseln eines munteren Feuers. Eine bequeme Liege unter meinem geschundenen Körper. Nein, ich fühlte mich gut, nichts tat weh, mein lahmes Bein war wie neu.
Ich öffnete die Augen. Über mich gebeugt war ein junger Mann, der aussah wie ich. Mein Bruder. Er lächelte mich an. Hinter ihm erkannte ich Anna. Ihre gelben Augen strahlten mich warm an. Ich lächelte zurück. Endlich war ich einer von ihnen.