Jonas, Patientennummer 3462

Am Mittwoch treffe ich mich mit Jonas.

Jonas ist mein Lieblingspatient. Auch wenn ich ihm schon mehrfach etwas zur Beruhigung spritzen musste, wenn es zu kritischen Ausrastern kam, ist er mir von allen am liebsten. Denn es wird nie langweilig.
Am Mittwoch kommt er herein. Er trägt einen langen, schwarzen Talar und ein weißes Beffchen. Wo er nur immer die Kostüme herkriegt?
„Bist du also gekommen, um zu beichten?“, frage ich ihn und schlage mir ein Kreuz. Ich erreiche ihn nur, wenn ich mitspiele.
Er versieht mich mit einem tadelnden Blick, deutet auf das Beffchen und sagt: Ich bin ein protestantischer Pfarrer, kleines Dummerchen.“ Er setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber und verschränkt die Hände im Schoß. „So sprich, Kind. Zu was kann dir der allmächtige Herrgott verhelfen?“ Er betrachtet mich stiefmütterlich streng, wenngleich auch voller möglichem Verständnis für meine noch kommenden Klagen.
„Doch zumindest zu meinem Gehalt“, murmele ich. Dann etwas lauter: „Jonas, wie war deine Woche? Hast du den Streit mit dem Raptosaurus geklärt?“
Letzte Woche war Jonas ein Therizinosauroidea, der ein Problem mit einem selbstmordgefährdeten Saurier hatte. Dieser bat Jonas ihn zu fressen. Doch da Therizinosauroidea strenge Vegetarier waren, war ihm dies unmöglich gewesen und er hatte dankend abgelehnt. Trotzdem wollte er ihm helfen und gemeinsam hatten sie sich auf ein Selbstmordkommando geeinigt, bei dem Jonas das Gemeinschaftsbadezimmer überschwemmt hatte.
Jonas schüttelt nachdenklich den Kopf. „Ich denke, du bist sehr verwirrt, armes Kind“, sagt er und beugt sich vor, um mir den Kopf zu tätscheln. Ich lasse es zu.
„Möchtest du ein Bonbon?“, fragt er und zieht aus seiner Tasche ein angestaubtes Ricola hervor.
Angewidert lehne ich ab. „Ich mag kein Ricola. Zudem sollte man sich von einem Priester nicht mit Süßigkeiten locken lassen.“
Jonas ist empört. „Ich sagte doch, ich bin ein protestantischer Pfarrer“, wiederholt er energisch. „Ich tue dir nichts!“
Erschrocken beschwichtige ich ihn. „Um Gottes Willen…“
„Beschmutze nicht den Namen des Herrn!“
„Verzeihung. Ich will sagen, dass ich das nicht so gemeint habe. Was ich meinte war, dass du mich vielleicht einer göttlichen Prüfung unterziehst, der ich widerstehen muss. So wie bei dir und dem Saurier. Wie ging es damit weiter, Jonas?“, will ich das Thema zurück auf das Wesentliche lenken.
„Was auch immer“, nuschelt Jonas und schiebt sich das Bonbon selbst in den Mund. Er holt tief Luft und hebt den Arm in die Höhe. „Mein Sohn…!“
„Tochter“, korrigiere ich seufzend.
„Vergib mir“, lenkt er ein. „PFUI, EKELHAFT!“ Er spuckt das Bonbon auf meinen Schuh. Unbemerkt verdrehe ich die Augen und werfe das Ricola schließlich in den Müll.
„Jonas, können wir…?“
„Also, meine Tochter. Gott wird von dir ein Opfer verlangen. Nimm dein ältestes Kind und töte es auf dem Berg Teschith“, verlangt er.
„Hier gibt es keinen solchen Berg.“
„Dann nimm den Hügel hinter dem Haus.“
„Ich habe keine Kinder, Jonas, das weißt du doch.“
Er räuspert sich. „So lausche andächtig und nimm dein Vieh.“
Ich rümpfe die Nase. „Ich habe nur eine Katze.“
„So soll diese reichen, wo Gottes Gnade doch unendlich ist.“ Er erhebt prophetisch die Arme und steht auf.
„Jonas, bitte setz sich wieder hin“, fordere ich ihn auf. Das hier läuft schief.
„So höre, Unwissende!“
„Ich habe ein abgeschlossenes Studium“, protestiere ich.
„Schweige, denn Gott hasst die gelehrten Frauen“, ruft Jonas.
„Dann ist er ein Idiot. Jonas, willst du mir nicht lieber erzählen, was du diese Woche in der Gruppentherapie gelernt hast?“, versuche ich ein letztes Mal die Situation unter Kontrolle zu bringen.
Doch Jonas, der schizophrene Prophet ist mit den Gedanken auf und davon. Er steht auf dem Therapiesessel und schreit: „Gib mir deine Pussy, ich mich sie opfern!“ Dann stürmt er auf meine Handtasche und sucht nach meinem Schlüssel. Das hatten wir alles schon.
Wenig beunruhigt greife ich unter meinen Stuhl und drücke den Alarm. Drei Männer stürmen herein, zwei halten Jonas, der wild gestikulierend vor sich hin predigt, fest, und einer setzt ihm eine Spritze in den Oberarm. Jonas lacht kurz, als würde der Stich kitzeln. Dann sackt er langsam in sich zusammen.
„Sünderin! Gott wollte ein Opfer“, sagt er zu mir.
„Aber ich bin nicht Abraham. Ich bin deine Therapeutin“, entgegne ich mitleidig.
„Buh“, murmelt er noch. Und ein verträumtes: „Steinigt das Weibsbild…“ Dann ist er weg.
Abends sitze ich Zuhause im Wohnzimmer auf dem Sofa und streichle meinen Kater.
„Schon lustig“, wispere ich in sein Fell. „Als hätte er gewusst, dass du mein kleiner Isaak bist.“ Ich schmunzele und freue mich schon wieder auf Mittwoch.