Glück gehabt!

Soll ich?

Soll ich nicht? Bisher bin ich nur einmal fast erwischt worden, und das war auf der Fahrt hin und nicht zurück. Trotzdem. Neues Semester. Vielleicht haben sie die Spielregeln geändert. Okay, ich werds riskieren. Treppe runter, Tür auf, rein in die schlechte Luft, Sitzplatz finden.
Der Zug fährt an. Bis zum nächsten Halt sind es fast 30 Minuten. Ich schaue mich um. Auf dem Weg zum Zug war keiner, auch am Gleis nicht. Aber vielleicht steigt er erst kurz vor knapp dazu? Und wenn er mich erwischt, muss ich blechen. Das darf nicht passieren, dazu bin einfach viel zu arm.
Ich schwitze. Hinter mir klappert ein Mülleimer. Ich zucke zusammen. Gott, reiß dich zusammen, es ist nur ein Mülleimer. Warum sollte er den benutzen?
Ablenkung. Ich schaue aus dem Fenster. Felder, Wälder, Wiesen, Stromleitungen. Da, eine Spiegelung – er steht direkt hinter mir! Ich wirbele herum. Nur ein Fahrgast. Nun beruhige dich. Es ist noch keiner gestorben, als er erwischt wurde. Oder? Es ist warm, so warm. Und muffig, wie ein ungewaschenes Badehandtuch am Ende des heißen Sommers. Ich blicke erneut den Gang auf und ab.
Noch drei Stationen. Die alte Frau gegenüber lächelt mich gutmütig an. Sie hat keine Ahnung, dass ich fast ein jugendlicher Straftäter bin. Ich nicke höflich zurück.
Noch zwei Stationen. Eine Schulklasse steigt aus. Oh nein! Das verkürzt seinen Weg zu mir. Die Zeit, die er braucht, um mich zu kriegen, sie schwindet, verrinnt. Ich schwitze noch mehr.
Noch eine Station. Ich stehe auf. Und da sehe ich ihn. Mein Herz setzt einen Schlag aus, bevor es anfängt, wie wild zu rasen. Ich reiße die Augen auf, balle die Hände zu Fäusten. Er ist noch ein Dutzend Sitzreihen entfernt. Ich habe eine reelle Chance.
Ich versuche, ruhig und gelassen zur Tür zu gehen. Nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Noch fünf Sitzreihen. Ich sehe schon den Zielbahnhof.
Er schaut mich an. Hat mich bemerkt. Kommt auf mich zu, seine schweren Schuhe wie die Grabrede auf meiner Beerdigung. Der Zug hält. Ich drücke wie wahnsinnig auf den Knopf.
Eine kalte Hand legt sich sich mir auf die Schweiß verschmierte Schulter. Er sieht mir in die Augen. Sein Mund öffnet sich zu einem höllischen Grinsen.
„Ach naja, junge Frau. Gehen Sie mal, Sie haben es sicher eilig.“ Weg ist er.
Ich springe aufs Gleis, atme tief die frische Luft des Triumphs ein, den Duft der Freiheit.
Glück gehabt.