Das Raubtier und die bestie
Die Nachricht weckte mich am frühen Morgen.
Wiederholt leuchtete die kleine Melde-Wolke vor meiner Schnauze auf, dann verwandelten sich ihre pinken Wattebäusche in Buchstaben. Ich hatte nie verstanden, warum man die Wolken nicht gleich so konstruiert hatte, dass sie die Nachricht vorlasen – schließlich gaben sie so oder so ungefragt ihren Senf zu allem. Ich rieb mir mit der Pfote den Schlaf aus den Augen und las: Ich brauche Sie. Kommen Sie bitte rasch. Die Melde-Wolke können Sie als Portalführer verwenden. Hochachtungsvoll, Brox
Die Wolke verwandelte sich zurück in ihre flauschige Ursprungsform und flog mit einem ungeduldigen Brumm um meinen Kopf. “Jaja…”, murmelte ich zu mir selbst. “Sollte das nicht eigentlich ein ruhiger Tag werden?” Ich erhob mich. Brox wollte ich nicht warten lassen. Behutsam streckte ich meine müden Knochen – die pulsierende Melde-Wolke mein stetiger Schatten –, kämmte mein glanzloses graues Fell und ärgerte mich einmal mehr über die fortschreitende Krümmung meines Rückens. Wenn das so weiter ging, müsste ich bald auf allen Vieren kriechen, wie ein gewöhnliches Haustier. Missmutig grummelte ich. Die Wolke pfiff mir mitleidig zu.
Nachdem ich meinen Kittel angelegt, meine Augengläser aufgesetzt und meinen Arztkoffer gegriffen hatte, schleppte ich mich auf meinem Gehstock zur Eingangstür.
“Portal aktivieren“, sagte ich laut und deutlich.
“Sehr wohl, Herr Doktor. Wohin darf ich Sie schicken?“, fragte die blecherne, hohe Stimme des Portals.
“Ich habe einen Portalführer“, gab ich zurück. Die pinke Wolke quiekte vergnügt.
“Sehr wohl, Herr Doktor. Ein Portal wird aktiviert.“ Die Holztür verwandelte sich mit einem Mal in ein Fenster, dessen hellblaue Scheibe vom Boden bis zur Decke reichte. Dahinter konnte man Schatten sowie farbige Wolken huschen sehen, die entweder eilig einem wichtigen Ziel entgegen rauschten oder etwas bräsig umher trudelten. Die kleine Wolke an meiner Seite raschelte vorfreudig und setzte sich in Bewegung. Als sie halb durch das Fenster geglitten war, legte ich meine Hand auf ihre pinke Watte, worauf sie kicherte. Dann schritt ich durch das Blau.
Auf der anderen Seite herrschte Trubel. Dutzende Wesen drängelten sich an mir vorbei: Ein Montafon-Kalb betrachtete neugierig seine Umgebung durch pechschwarze Kulleraugen, während es mit seinem Rüssel eine Portion Zuckerwatte über die Menge hielt. Seine Mutter zog es weiter, vorbei an den riesigen Schaufenstern, die einen Blick auf die dahinter liegenden Gehege freigaben. Ein Gurdu öffnete den Eingang zum Haustierrevier gegenüber meinem Portalausgang. Er stakste mit seinen langen dürren Beinen vorneweg, seine Weibchen und zehn Junge folgten, die großen kugelartigen Köpfe geradeaus gerichtet. Ich wunderte mich, als ich sah, dass sich in dem Gehege Vitej befanden, eine unterentwickelte Art der Gurdu selbst. Der Gedanke, sich ein Wesen zu halten, dass mit etwas mehr Evolutionsglück man selbst hätte werden können, war für viele Arten eine Bestätigung ihrer fortgeschrittenen Intelligenz. Ich fand es albern.
“Herr Doktor, Herr Doktor!“ Ich drehte mich um und erblickte Brox‘ Assistent, der sich hastig einen Weg durch die Menge bahnte und keuchend vor mir zum Stehen kam.
“Rubak, gut, Sie zu sehen. Was ist denn heute hier los?“, rief ich und deutete auf die lärmende Masse.
“Unser Planet steht heute in einer Linie mit dem Einkaufsstern Kar, deshalb überschneiden sich die Portalwege. Wir können den Fehler leider nicht beheben, daher das Chaos“, erklärte Rubak lauthals und stemmte die Flügel in die Hüften. Seine Glubschaugen betrachteten die vielen Wesen und sein schwerer Atem brachte die Blasen vor seinen Kiemen zum Beben. “Brox braucht sie, kommen Sie!“
Wir bewegten uns schnellen Schrittes durch die breiten Gänge, bis Rubak eine schwere Metalltür aufschloss, die die Geräuschkulisse hinter uns abschnitt.
“Warum wurde ich gerufen?“, fragte ich. Rubak warf mir einen vielsagenden Blick zu.
“MacNool hat eine neue Lieferung gebracht.“ MacNool war Entdecker und Händler und arbeitete seit vielen Jahrhunderten für Brox. Um seine Abenteuerlust zu befriedigen, drang er in die entferntesten Galaxien vor und brachte die wunderlichsten Kreaturen mit zurück – ob sie wollten oder nicht. Dabei wendete er zuweilen auch eiserne Methoden an. Obwohl die meisten von MacNools Tieren sich nach dem richtigen Training als handzahm erwiesen, gab es einige wenige Unzähmbare. Zur Untersuchung der Tiere kam meistens ich ins Spiel. Erklärte ich Wesen für unvermittelbar, ließ Brox sie eliminieren, denn Brox war Geschäftsmann und ein Rücktransport zu kostspielig.
“Was hat er diesmal mitgebracht, dass es so eilig ist?“
“Mac sagt, solche Wesen hat er noch nie gesehen. Sie haben glatte Haut, nur vereinzelt Fell. Ich finde, sie machen komische Geräusche. MacNool hat fünf Exemplare gebracht. Er sagt, sie haben alle in einem Haus gelebt. Ihr Planet liegt in einer sehr einsamen Galaxie. Und…“ Rubak brach ab. Ich schaute ihn fragend an.
Er presste den Schnabel fest zusammen. “Diese Wesen, sie… obwohl sie laut MacNool intelligent sind, essen sie die anderen Lebensformen auf ihrem Planeten.“ Ich verstand Rubaks Entsetzen. In unseren Galaxien war es verpönt, Fleisch zu verzehren. Ich wusste jedoch, dass sich vor langer Zeit viele Völker dieser Nahrungsquelle bedient hatten. Sogar über meine eigene Art – damals unterentwickelte Raubtiere – gab es Aufzeichnungen, die den Konsum von Fleisch belegten. Rubak war noch sehr jung; auf ihn mussten diese Wesen wie Bestien wirken.
Vor einer gelben Holztür mit der Aufschrift “Brox Matixx; Leiter, Besitzer und Präsident der Tierhandlung Intergalactu“ kamen wir zum Stehen. Rubak klopfte und als wir ein “Herein!“ von innen hörten, nickte er mir zu und ging. Ich trat ein.
Ein weißer Drehstuhl stand vor einem weiß lackierten Tisch auf weißen Fliesen, die nahtlos in weiße, nackte Wände übergingen. Hinter dem Schreibtisch schwebte Brox. Seine durchsichtige, blasenartige Gestalt war dem Fenster zugewandt, das die gesamte Rückseite des Büros ausfüllte. Das Sternenlicht der dahinter liegenden Galaxie ließ seinen Körper, dessen verschwommene, weißliche Züge er beliebig verändern konnte, in tausend Farben schillern. Heute hatte er Arme, Beine und sogar einen Kopf, der sanft vor und zurück wabbelte, als er um den Tisch herum auf mich zu kam.
“Gut, dass du gekommen bist. Ich nehme an, Rubak hat schon geplappert. Lass uns am besten gleich losgehen.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, schwebte er aus dem Raum. Am Ende des Flurs betraten wir einen Aufzug und stiegen nach einer kurzen, wackeligen Fahrt in einer Lagerhalle aus. Begleitet von neugierigen Blicken der Arbeiter durchquerten wir zügig die Halle und kamen schließlich in einen großen, lichtdurchfluteten Raum. Vier Zellen waren mit Stahlwänden voneinander und mit Glasscheiben von uns getrennt. Zwei davon waren leer. In der Dritten befanden sich mehrere Wesen und an einer Wand hatte man ein schlichtes Klettergerüst aufgebaut. Eines der Wesen hatte außer im Gesicht und an den Pfoten schwarzes, feines Haar am ganzen Körper. Mit seinen runden Ohren und den fröhlichen, schwarzen Augen war es mir sympathisch. An extrem langen Armen hangelte es sich an einer Stange entlang. Es bleckte seine schneeweißen Zähne, als es mich erspähte, und gab ein hohes Kreischen von sich.
“Wir nennen ihn Pan”, erklärte Brox. “MacNool hat ihn aus einem Untersuchungszentrum des Planeten mitgenommen, von dem er auch die anderen Wesen mitgebracht hat. Er wäre definitiv vermittelbar, aber leider ist er krank und wird bald sterben.” Ich zog eine Augenbraue hoch. Leid tat es Brox wohl eher um das verlorene Geld als um das niedliche Haustier.
Um Pan tummelten sich drei vierbeinige Wesen. Ich stutzte – sie waren mir nicht unähnlich. Zwei hatten goldenes, glattes Fell und einer graues, wuscheliges. Mit langen Schnauzen schnüffelten sie ihre Umgebung ab, einer hob gerade ein Bein und ließ in einer Ecke Wasser.
Brox stoppte vor der letzten Zelle – und ich sog scharf die Luft ein.
Es waren fünf. Zwei von ihnen saßen auf der Steinbank, die am weitesten entfernt von der Glasscheibe war. Glatte, rosa Haut spannte sich über ihre Körper. Durch meine langjährige, intergalaktische Erfahrung konnte ich ihre Geschlechtsteile identifizieren, obwohl ich Form, Farbe und Fell noch nie in genau dieser Kombination gesehen hatte. Es handelte sich bei den beiden um ein Männchen und ein Weibchen. Vor ihnen auf dem Boden saßen zwei kleinere Exemplare, jeweils das Abbild ihrer – wie ich annahm – Eltern, die sie von hinten umklammerten. Das männliche Junge war beinahe doppelt so groß wie seine Schwester. Ein Stück weiter entfernt saß ein weiteres Weibchen, das wesentlich älter sein musste, da ihre fleischliche Hülle runzlig und die Haltung leicht gekrümmt war. Zudem war ihr Kopfbewuchs farblos, im Gegensatz zum braunen Haar der anderen. Die Kreaturen waren nur wenig geschützt vor der Umwelt, das meiste Fell befand sich auf den Köpfen. Das Männchen hatte dort nur einen spärlichen Bewuchs, umso mehr Flaum zog sich dafür aber über seinen restlichen Körper.
Die Wesen blickten mit unnütz nebeneinander liegenden Augen zu mir. Ihre Schnauzen waren eingedellt, mit viel zu schmalen Nasen, um genug zu riechen, merkwürdig unbeweglichen und fleischigen Ohren und einem winzigen Mund. Wie hatten diese hilflosen Wesen so lange allein in ihrer Galaxie überlebt? Waren sie bereits die Haustiere von jemandem?
Das Männchen schien der Anführer zu sein. Ständig schauten die anderen zu ihm hin, während er unverständliche Laute murmelte und mich abwechselnd mit angsterfüllten und grimmigen Blicken taxierte. Von der Gruppe ab hob sich das weibliche Junge: Ihr Haar war von einem dunklen Gold und mit ihren kurzen Beinen – sie war nicht größer als Pan in der Zelle nebenan – und der tapsigen Art, sich zu bewegen, schien sie die Jüngste zu sein. Ängstlich zog sie an der Hand ihrer Mutter und sah sich unsicher um.
“Widerlich, nicht wahr?“ Ich hatte Brox neben mir beinahe vergessen.
“Wie lange hast du sie schon hier?“, fragte ich, seine Frage ignorierend.
“Seit gestern Abend. MacNool sagte, sie blieben trotz der niedrigen Dosis lange betäubt und kamen erst nach dem Flug wieder zu sich. Hör zu, Wolfgang, ich habe schon einige hochkarätige Interessenten gefunden. Was meinst du, kann ich mit diesen Kreaturen Geld machen oder nicht?”
Ich sah mir die rosa Wesen nachdenklich an. Widerlich, hatte Brox gesagt. Mir war klar, dass er sie nicht als niedliche Kuscheltiere versteigern wollte. Ich hatte schon einiges gehört über Brox’ sogenannte “hochkarätige” Kunden. Gäbe ich mein Okay, stünde ihnen keine angenehme Zukunft bevor. Doch stufte ich sie als unvermittelbar ein, würden sie eliminiert werden.
“Ich brauche ein paar Tage Zeit, um sie genauer zu untersuchen. Und ich will MacNool sprechen.”, verlangte ich.
Brox waberte neben mir, seine Aura pulsierte gelb vor Ekel.
“Du hast drei Tage, einschließlich heute, übliche Bezahlung plus Nachtzuschlag. Ich schicke dir MacNool vorbei.”
Es war Mittag, als die zwei medizinischen Assistenten es geschafft hatten, das große Männchen in den Untersuchungsraum zu bringen und festzuschnallen. Es hatte sich heftig zur Wehr gesetzt, mit Armen und Beinen um sich geschlagen und laut geschrien. Sein Weibchen und deren Sohn hatten versucht, die Assistenten zu stoppen. Dabei hatten die Musi Murini sonst eine sehr beruhigende Wirkung auf Patienten: Mit ihren großen, dunklen Knopfaugen am breitesten Teil ihrer spitz zulaufenden Schnauzen, dem weißem Fell, das in langen, weichgeschuppten Schwänzen endete und ihrer piepsigen, hallenden Stimme wurden sie gerne als Mediziner eingestellt.
Das Männchen lag bebend vor mir, die Zähne aufeinandergepresst, mit aufgerissenen Augen. Zwar empfand ich Mitleid mit ihm, durfte aber meine Aufgabe nicht vernachlässigen. Ich öffnete meinen Arztkoffer.
Zunächst nahm ich die notwendigen körperlichen Untersuchungen vor. Ich tastete, leuchtete und hörte alles ab und sah mir mit dem Tomograph das Innere des Wesens an. Er ließ es über sich ergehen. Wie eine Bestie kam er mir nicht vor.
Bei Sternenuntergang hatte ich bis auf das weibliche Junge alle untersucht. Das Männchen hatte zu viel Fett auf dem Bauch, die Alte hatte einige abgestorbene Nervenzellen im Gehirn und bei dem Jungen vermutete ich aufgrund seines unentwegten aggressiven Verhaltens eine psychische Störung. Die Mutter war körperlich gesund. Das war immerhin schon mal eine gute Nachricht, die ich Brox überbringen konnte. Er war nicht für seine Geduld bekannt.
Ich schickte gerade die Musi Murini los, um das weibliche Junge zu holen, als MacNool im Türrahmen stand. Immer wieder war es für mich interessant, den Weltraum-Bummler zu treffen, denn seine Rasse bekam man selten zu sehen. Die nachtfarbenen Kreaturen mit den vielen Tentakeln lebten zurückgezogen in einer dämmrigen, trostlosen und weit entfernten Galaxie. Ein hartes Leben, das ihnen jedoch auch ein besonderes Geschenk gemacht hatte: Die Ammoni hatten telepathische Fähigkeiten. In seiner grün-glänzenden, mit prächtigen Metallketten schwer behängten Kluft neigte MacNool seinen pechschwarzen Kopf zum Gruß, die Tentakel mit einer goldenen Kette nach hinten gescheitelt.
“Wolfie, lange nicht gesehen”, schnarrte er und offenbarte durch ein breites Grinsen seine nadelartigen Zähne.
“Hallo Mac”, grüßte ich zurück. Ich legte ein Instrument zurück in meinen Arztkoffer und lehnte mich mit dem Rücken an die Untersuchungsliege. “Wie du ja weißt, soll ich für Brox eine Einschätzung der neuen Wesen abgeben. Sie sind aber so fremdartig, dass mir dabei Hintergrundinformationen fehlen. Laut Rubak sind es regelrechte Monster, doch bisher kommen sie mir nicht so vor. Ich möchte wissen, was du auf dem Planeten über sie erfahren hast.”
MacNool bewegte sich langsam durch den Raum und strich mit spitzen Fingernägeln über die blanken Möbel. “Diese Wesen haben einen wunderbaren Planeten, der ihnen alles liefert, was man sich wünschen kann: ein geniales Ökosystem, grüne Natur, genug Wasser, Luft und Licht. Ich konnte mithilfe des Planetenkerns einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen: Die frühen Wesen dieser Art gaben sich mit dem zufrieden, was die Erde – so nennen sie den Planeten, ziemlich unkreativ, wenn du mich fragst – ihnen offerierte. Zwar ist es abartig, dass sie heute noch andere Wesen zubereiten und verspeisen, aber damals gingen sie zumindest wertschätzend mit diesem Fleisch um. Ihre Entwicklung schritt schnell voran, sie wurden gierig, machthungrig, und kehrten sich gegen ihre sogenannte ‘Mutter Erde’, die ihnen doch alles gegeben hatte. Sie beuten ihre Ressourcen aus und verschmutzen sie aus Habgier.”
MacNool atmete heiser aus und blickte mich aus seinen schwarzen Augen lange an. Obwohl er schon fast überall gewesen war, behagte ihm das Gesehene offensichtlich nicht.
“Es sind intelligente Wesen, Wolfie, soviel kann ich sagen. Doch die meisten von ihnen nutzen diese Intelligenz für Gewalt gegen ihre Erde, Gewalt gegen sich selbst.”
Das entsetzte mich. Ich hatte schon viele Planeten besucht, als junger Mediziner war ich viel gereist und hatte einige Abenteuer erlebt. Viele kranke Wesen hatte ich gesehen, versucht ihnen zu helfen oder sie gar geheilt. Und freilich war jeder Planet, jeder Stern, jeder Mond anders. Auf vielen waren die Bedingungen hart, auf Wüstenplaneten oder bitterkalten Monden. Doch niemals zuvor hatte ich von einem kranken Planeten gehört. Welch große Macht besaß diese Spezies, dass sie einen Himmelskörper dermaßen angreifen konnte?
“Worte können nicht annähernd beschreiben, was ich dort gesehen habe.” MacNools starrer Blick durchbohrte mich. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich die goldene Kette um seine Kopf-Tentakel gelöst hatte und sie wie schwarze Schlangen um seinen Kopf tanzten. “Ich kann es dir aber zeigen…”
“Mac, nein…!”, rief ich, doch es war zu spät. Zwei Tentakel schossen pfeilschnell durch den Raum auf mich zu, setzten sich auf meine Augen und saugten sich fest. Meine Glieder wurden schlaff, meine Sinne waren betäubt. Gleich würde ich in MacNools Erinnerungen blicken. Ich hasste es, wenn er das machte…
Plötzlich überschaute ich von einem Baumwipfel einen Dschungel. Wenige Meilen entfernt toste ein gigantischer Fluss und bahnte sich seinen Weg durch das endlose Grün des Urwalds. Die Luft war feucht und heiß, doch MacNools Körper hatte keinerlei Probleme, sich zu akklimatisieren. Gerade wunderte ich mich, was Mac mir hier zeigen wollte, als ich Lärm hörte und nah am Horizont eine massive Staubwolke aufsteigen sah. Zahllose Wesen der neu entdeckten Spezies drängten sich um große Geräte, riefen sich zu, rannten durcheinander – und hackten die Bäume des Urwalds ab. Durch Macs Augen konnte ich Millionen von kleinen Wesen sehen, die vor dem Lärm flohen, deren Heim gerade zerstört worden war. Kreaturen, die genauso aussahen wie unsere neuen Haustiere, bloß mit dunklerer Hautfarbe, hetzten panisch durch den Dschungel und bangten um ihr Leben.
MacNool übertrug weitere Informationen in mein Gehirn, über die Geschichte der Wesen, ihre Traditionen, ihre Rasse – Menschen, so hießen diese Kreaturen. Mit jedem Bild erfuhr ich mehr, als meine beziehungsweise MacNools Augen eigentlich sahen.
Eine neue Szene begann: ein Raum, so steril wie der, in dem sich mein Körper eigentlich befand. An einer Wand waren Käfige aufgereiht, in denen unterschiedliche kleine Tiere hockten. Eingepfercht drückten sie ihre Mäuler gegen die Gitterstäbe. Ein Mann öffnete einen Käfig, zerrte ein quiekendes Tier, das mich entfernt an die Musi Murini erinnerte, am Schwanz heraus und injizierte ihm mit einer großen Spitze eine gelbe Flüssigkeit. Die Maus zitterte, quiekte schrill auf und fiel regungslos um. Der Mann sagte etwas zu einem Assistenten und dieser holte ein weiteres Tier aus dem Käfig – es sah aus wie Pan. Vertrauensvoll legte es seine Arme um den Assistenten. Ich wusste, was passieren würde. Mein Herz blutete.
Ich sah eine gigantische Stadt. Autos kurvten durch breite Straßen und stießen grauen Dunst aus, der die Luft erfüllte. Die Menschen liefen dicht gedrängt umher, eilig, ohne einander anzusehen. Stoffmasken verdeckten bis auf mandelförmige, dunkle Augen alles in ihren Gesichtern.
Menschen mit Rohren, aus denen Bleikugeln schossen, jagten andere Menschen, die bunten Kopfschmuck trugen und ihre bronzefarbenen Körper mit Symbolen bemalt hatten. Ich lernte, dass die Indianer von ihrem Land vertrieben wurden, Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen, rücksichtslos und grausam.
Dann Wasser, das an Land grenzte. Eine kleine Stadt. Plötzlich wurde die Welt von einem gewaltigen Beben erschüttert, ein Feuerball in Form eines Pilzes bedeckte den Horizont, eine Druckwelle verwüstete alles. Milliarden starben. Die Menschen hatten diese Waffe selbst gebaut. Und gegen ihresgleichen eingesetzt.
Ein Kind, das verhungerte. Andere gingen vorbei, als sähen sie es nicht.
Massive Gebäude bliesen durch Schornsteine Rauch in die Luft, Dreck, zu viel, zu schnell. Ich fühlte das Innere des Planeten sterben…
“Hast du genug gesehen?”
MacNool stand über mir, seine Tentakel wurden wieder von der goldenen Kette an seinem Kopf gehalten. Ich war auf den Boden gerutscht, gegen den Fuß der Untersuchungsliege gelehnt, und die Reizüberflutung hatte mich zittrig zurückgelassen.
“W-w-warum…?”, war alles, was ich herausbrachte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, die Musi Murini traten ein, das weibliche Junge trug eine von ihnen mit festem Griff auf dem Arm. Mit großen, angsterfüllten Augen sah mich das Junge an. Sie löste ihre winzige Hand von der Schulter der Musi und streckte sie in meine Richtung. Ein Menschenmädchen.
◊◊◊
Nachdem MacNool sich mit einem bedeutungsschwangeren “Überleg dir gut, wie deine Empfehlung aussieht, Wolfie!” verdrückt hatte, schickte ich die Musi Murini aus dem Raum. Ich atmete tief durch, kam allmählich wieder zur Ruhe und widmete mich nun dem Kind.
Das goldene Haar des Mädchens ringelte sich um ihren kleinen Kopf, ihre Augen, die die Farbe meines Fells hatten, waren furchtsam aufgerissen. Ihr kleiner Mund war gefüllt mit winzigen Zähnchen, und wenn er nicht gerade blubbernde Geräusche von sich gab, formte er ein banges O. Ich konnte, anders als bei ihrem Vater und Bruder, keine Aggression wahrnehmen. Sie schrie nicht, schlug nicht um sich; still saß sie auf der Liege und sah sich um, sah mich sogar direkt an. Während der Untersuchung griff sie nach den Instrumenten, argwöhnisch zwar, doch sie schien zu spüren, dass von mir keine unmittelbare Gefahr ausging. Wie erwuchs aus dieser kindlichen Neugier solche Grausamkeit?
Am nächsten Morgen ließ ich den Menschen von Rubak als Erstes Kleidung bringen. In MacNools Visionen hatte ich mir die Lebensumstände der Erdlinge eingeprägt. Daher bekamen sie neben der Kleidung auch weiche Schlafunterlagen, auf ihre Körper angepasste Nahrung und einen Abort. Die feindliche Haltung mir gegenüber blieb. Regelmäßig verfiel der Mann in wütende Schreierei, in die sein Sohn nur zu gern einstimmte. Die Mutter wirkte verstört. Die Alte hielt sich raus, wenn es laut wurde. Zu Anfang hatte sie versucht, den Mann zurückzuhalten, wenn er mit hochrotem Kopf gegen die Glasscheibe hämmerte, doch nun saß sie entweder apathisch in einer Ecke oder untersuchte fieberhaft alles, was sie fand.
Das Mädchen faszinierte mich immer wieder aufs Neue. Wenn ihr Vater und Bruder schrien, hielt sie sich die Ohren zu. Ihre Umgebung untersuchte sie langsam und vorsichtig, aber doch interessiert, und fast immer sprudelten Worte aus ihrem kleinen O-förmigen Mund. Ich hatte Rubak beauftragt, ein paar Unterhaltungsgegenstände für die Menschenkinder aufzutreiben, was sich jedoch als schwierig erwies, denn leblose Spielzeuge, wie sie es von ihrem Planeten kannten, konnten wir nicht bieten. Also ging ich am Nachmittag mit einem Glossati, einem Verwandlungswunder, in der Tasche in die Zelle der Menschen. Rubak und zwei andere Mitarbeiter standen vor der Glasscheibe Wache.
Die Menschen wichen panisch vor mir zurück und drückten sich an die Wand, als gebe sie ihnen Halt. Der Mann schleuderte mir raue Schreie entgegen und hielt seinen Jungen um die Schultern gefasst. Die Mutter hielt eine Hand schützend vor die Alte, mit der anderen umklammerte sie ihre Tochter. Ich blieb stehen und hob beschwichtigend eine Pfote, doch meine Krallen machten ihnen noch mehr Angst. Schließlich setzte ich mich ächzend auf den Boden, meinen Gehstock rollte ich als Friedenszeichen ein paar Meter weit weg. Ich reichte dem Mann sitzend immer noch bis zur Brust, doch die Familie schien beruhigter.
Das Glossati war ein dicker Wurm, groß wie ein Menschenfinger. Ich legte ihn vor mich und aktivierte den Mechanismus. Eine feine Musik ertönte, der Wurm ringelte sich in Richtung der Menschen. Die Eltern schauten ungläubig auf das Spielzeug, die Alte interessiert und die Kinder überrascht. Der Wurm hielt kurz an, verpuppte sich in einem knallgrünen Kokon, verharrte so einige Sekunden… nur um dann mit einem Anschwellen der Musik aufzubrechen und einen wunderschönen Flatterfalter hervorzubringen, der in strahlenden Orangetönen leuchtete.
Die Anspannung der Familie hatte sich gelöst, ich hatte sie abgelenkt. Nun sahen mich die Eltern prüfend an. Die Alte beobachtete ihre Enkelin, die wie geplant Gefallen an dem Spielzeug fand. Auf ihren kurzen Beinchen hüpfte sie auf und ab, um den Flatterfalter zu berühren. Dieser wurde mit einem Mal aus der Luft geschlagen und landete klirrend auf dem Boden. Der Bruder trat mit noch erhobener Hand wütend gegen den Falter und zog sich dann auf sein Schlaflager zurück. Traurig sah das Mädchen ihm nach. Sie ging auf den Falter zu, nahm ihn vorsichtig hoch und legte ihn zu meiner Überraschung vor meine Füße. Mit ein paar Drehungen startete ich das Verwandlungswunder erneut und das Mädchen jagte den Falter durch den Raum. Ihr Mund hatte sich von einem bangen O in ein strahlendes Lächeln verzogen.
Am Morgen des dritten Tages erwartete ich bang Brox’ Besuch. Ich wusste, wie meine Empfehlung aussehen würde. Ich wusste nicht, wie ich sie abwenden konnte.
Am Abend hatte es einen Durchbruch gegeben. Ich hatte die Hunde und den Affen aus der Nachbarzelle zu den Erdlingen gebracht – mit Erfolg. Die Kinder waren begeistert und die Mutter und die Alte streichelten sogar den kranken Affen. Doch das war kein Vergleich zur Reaktion des Mannes: Als er einen der Hunde auf sich zulaufen sah, sank er auf die Knie, schloss das Tier in seine Arme und ließ sich lachend das Gesicht ablecken. War vielleicht sogar in ihm eine Spur Gutes? In dieser Nacht brauchte ich lange, bis ich Schlaf fand.
“Nun, kannst du mir schon etwas sagen?” Brox schwebte vor mir – heute war er eine simple, runde Kugel –, durch seinen durchsichtigen Körper konnte ich die Menschen hinter der Scheibe aufwachen sehen.
“Ich kann dir einiges sagen, mein lieber Freund, doch glücklich machen wird es dich nicht, geschweige denn reich.” Ich holte tief Luft. “Das sind keine einfachen Tiere, Brox. Ja, MacNool hat Recht, sie verhalten sich ihrem Planeten, ihren Tieren, ihrer eigenen Art gegenüber wie Bestien. Aber das ist bloß eine Seite. Es gibt unter ihnen auch gute Wesen. Diese Exemplare hier werden von uns als niedere Kreaturen gefangen gehalten. Doch in ihrer Welt herrschen sie über alles andere. Ich weiß, du tust so etwas normalerweise nicht, Brox. Aber MacNool muss sie zurückbringen. Wir können sie nicht eliminieren.”
In Brox blasenartigem Inneren wirbelte roter Staub auf.
“Ich soll lukrative Angebote ablehnen und stattdessen noch mehr Geld in diese Viecher investieren? Kommt nicht infrage.”
“Dann lass sie hier, wir warten, bis ein Portal auf ihren Planeten führt.”
“Das ist ein zufälliges Prinzip und könnte ewig dauern. Und wer füttert sie in der Zwischenzeit durch? Nein, Wolfgang. Alles, was ich wissen muss, ist: Sind sie für den Verkauf geeignete Haustiere oder nicht?”
Ich seufzte tief. “Sie sind etwas Besonderes, Brox…”
“Ja oder nein, Wolfgang?”
Ich hatte verloren. Sie hatten verloren.
“Nein.”
Eliminierungen fanden um Mitternacht im Vollzugstrakt statt. Man brauchte viel Energie dafür, daher mussten die meisten anderen Geräte ausgeschaltet sein. Schließlich sollte es für die Wesen schnell und schmerzlos gehen.
Es war das erste Mal, dass ich mich freiwillig meldete, die Eliminierung auszuführen. Ich wusste, es würde auch das letzte sein.
Ein paar Stunden vorher hatte ich noch einmal MacNool aufgesucht. Er sollte etwas Wichtiges für mich tun.
“Warum sollte ich Brox sagen, dass ich den Affen bereits eliminiert habe?”
Weil die Technologie des Vollzugs-Zimmer die Anzahl der vernichteten Kreaturen zählt, dachte ich. Weil Pan die richtige Größe hat und sowieso krank ist. Weil ich sie nicht einfach sterben lassen kann.
“Deshalb!”, sagte ich stattdessen. MacNools Augen glitzerten gierig und er fragte nicht weiter, als er das Gold in meiner Pfote sah.
Mit Rubaks Hilfe brachte ich die verängstigten Menschen in einem abgedunkelten Transportwagen in das Vollzugs-Zimmer. Im Kontrollraum bat ich Rubak, zu gehen. Ich musste es alleine tun. Meine Pfote ruhte lange auf dem Hebel, bis ich es über mich brachte. Es ertönte ein schrilles Geräusch. Und dann war es vorbei.
Rubak wartete am Eingang des Trakts auf mich. Er klopfte mir mitleidig auf die Schulter, als er meine Schnauze sah, und begleitete mich zu meinem Transportschiff. In dem Rollwagen, den ich schob, war mein Gepäck, sagte ich ihm, als er fragte. Statt einem Portal nähme ich diesmal ein Schiff, weil ich noch einen Zwischenstopp einlegen wolle, sagte ich ihm, als er fragte. Ich wüsste nicht, ob ich jemals wiederkäme, hätte ich ihm gesagt. Doch er fragte nicht.
Mit müden Augen sah ich die Tierhandlung unter mir kleiner werden, als ich mein Schiff in die dunklen Weiten des Universums steuerte. Sobald ich auf Kurs Richtung Heimat war, schaltete ich auf Autopilot und ging nach hinten. Ich zog das Tuch von dem Rollwagen und hob die Kiste auf den Boden. Drinnen polterte es. Mit einem Ruck öffnete ich den Deckel… und schaute in die großen grauen Augen des Mädchens, die gleiche Farbe wie mein Fell. Sie sah sich suchend nach ihrer Familie um, doch schnell schlich sich Neugier in ihr zartes Gesicht. Sie begann vor sich hin zu brabbeln und wackelte mit unsicheren Beinchen zu mir. Ihre kleinen, weichen Finger berührten vorsichtig meine Schnauze. Ich schmunzelte.
“Ich denke, ich werde dich Ylva nennen.”
♦ Hinweis: Ylva ist ein alter schwedischer Vorname und bedeutet “Wölfin”. ♦